Startseite | In tiefer Trauer |
Mariam trug den schönen Vornamen ihrer Großmutter, der Dichterin und Künstlerin Mariam Sawodschi. Mariams Eltern waren aus der politischen Gefangenschaft entlassen worden, und sie kam in dem Jahr zur Welt, in dem das iranische Volk in Bewegung geraten war, um seine Freiheit und sein Glück einzufordern. Das süße Baby wurde in den Armen seiner Mutter, seines Vaters, seiner Onkel in eine Welt hinausgetragen, in der die Menschen auflebten. Es war ein Frühlingskind, das in Begleitung der Freiheit auf uns zuging. Eine Knospe, die im Anblick der Sonne aufblühte. Aber es dauerte nicht lange, da zogen finstere Wolken über der Heimat auf, und ihr Vater geriet erneut in politische Gefangenschaft. In diesen harten und schwierigen Zeiten verschmolzen die hohen Ziele ihrer Mutter und ihres Vaters in Mariams Fühlen und Denken mit dem Epos von Kuroghlu, mit der schönen Musik und dem Gesang des Opernstücks, das dieser Heldengestalt galt, die für Gerechtigkeit und Freiheit gekämpft hatte.
Sie war gerade in die Schule gekommen, als die Herrscher der Finsternis schließlich erlaubten, dass sie alle paar Wochen einmal zusammen mit ihrer Familie ihren Vater im Ewin-Gefängnis besuchen durfte. Sie nahm ihren kleinen Bruder an die Hand, und die beiden durften ihren Vater bei jedem Besuch für zehn Minuten in die Arme schließen. Zu Hause wuchs sie mit einer modernen, aufgeklärten Kultur auf, während sie in der Schule von den Feinden der Freiheit und der Menschheit allen möglichen Unsinn und Aberglauben zu hören bekam. Ihr Vater konnte dem Gefängnis entfliehen, und es gab keinen sicheren Ort mehr in ihrer Heimat, wo die Familie hätte leben können. So mussten sie fliehen und fanden Zuflucht in dem für sie so fremden Deutschland.
Das kleine Mädchen nahm in ihren Gedanken und Vorstellungen Kuroghlu mit auf die weite Reise. Das erste Geschenk, um das sie die Freunde und Unterstützer der Familie bat, war eine Kassette mit der Musik dieser Oper.
Die Zeit verging, und sie schlug in dem neuen Land Wurzeln. Hier ging sie auf die Grundschule und später aufs Gymnasium. Sie war fleißig und strengte sich an, sie war eine vorbildliche Schülerin, die unermüdlich lernte und der Geschichte und Kultur ihres Geburtslandes mit viel Wissen und Respekt begegnete, deren Liebe aber allen Menschen gleichermaßen galt.
Im Laufe der Zeit nahm das Interesse Mariams an der iranischen Musik und dem iranischen Tanz immer mehr zu, und sie bewies dabei eine so große Begabung, so dass sie bald schöne iranische Tänze choreographisch gestalten und aufführen konnte. Ihre zarte Gestalt und ihre bezaubernden Gesten offenbarten die Reize des großen iranischen Schatzes an Tänzen und Musik. Künste, die in ihrem Geburtsland verboten waren und verfolgt wurden.
Sie gab auch iranischen Tanzunterricht und hatte vor einigen Jahren die Tanzgruppe "Schiras" gegründet, die in Deutschland, der Schweiz und Österreich erfolgreich auftrat.
Eine Knospe war aufgeblüht und verströmte einen bezaubernden Duft.
Direkt nach dem Abitur begann sie, in Tübingen Medizin zu studieren. In dieser Zeit lernte sie Michael kennen, aus der Freundschaft wurde eine große, tiefe Liebe.
Michael war in einer kleinen Familie in Singen zur Welt gekommen und hatte nach Abschluss der Realschule während seines Militärdienstes in der deutschen Marine die halbe Welt zu sehen bekommen. Nach dem Militärdienst unternahm er für ein Jahr eine Reise um die ganze Welt, um Länder und Leute kennen zu lernen. Dann machte er eine Ausbildung als Physiotherapeut und spezialisierte sich anschließend auf Osteopathie. Er schloss sein Studium an der Westminster-Universität in London mit einer ausgezeichneten Note ab. Michael sammelte in verschiedenen deutschen Städten Berufserfahrung. Seine Arbeit wurde sehr geschätzt, und die Menschen mochten ihn, und seine Patienten rühmten seine "heilenden Hände". Während er seine Praxis weiterführte, begann er auf Vorschlag einer belgischen Akademie, Osteopathie zu unterrichten und andere Studenten in diesem Zweig auszubilden.
Michael war sportlich, gebildet und ein kunstliebender Mensch. Mit der Musik war er innig vertraut, und vor zwei Jahren hatte er begonnen, bei einem Gesangslehrer Unterricht zu nehmen. Es war, als hätte die Hand eines Schöpfers Mariam und Michael mit höchster Sorgfalt und Hingabe für einander geschaffen.
Michaels Familie nahm Mariam, das Mädchen eines fernen Landes, mit herzlichen und liebevollen Armen auf, und Michael fand Eingang in die große Familie von Mariam, und bald hatte ihn jeder für sich in sein Herz geschlossen. Alle mochten ihn wegen seiner herzlichen Art, seines Humors und seiner heilenden Hände.
Rasch lernte er Persisch. Mit seiner Schlagfertigkeit und seinem liebenswürdigen Akzent zeigte er sich im großen iranischen Familienkreis und zeigte großes Interesse, die iranische Kultur zu lernen. Seine Stimme klingt noch in unseren Ohren, wie er das Lied sang: "Gole gandom schekofte" (Der Weizen blüht).
Beide waren für die beiden Familien unverzichtbar geworden.
Nach Abschluss des Studiums spezialisierte sich Mariam am Krankenhaus Tuttlingen auf Gynäkologie und machte rasche Fortschritte. Im Sommer 2006 schlossen Mariam und Michael in einer prächtigen deutsch-iranischen Hochzeit die Ehe. Sie ließen sich in dem schönen Örtchen Eigeltingen unweit des Bodensees nieder, um ein glückliches Familienleben aufzubauen. Ihr Zusammenleben zeigte, wie unsinnig Grenzen und Nationalismen sind, wenn das Herz weit offen steht und die Menschen sich liebevoll die Hand reichen.
Alle, die die beiden kannten, mochten sie sehr. Sie mochten sie wegen ihrer Art, ihrer Liebe, ihrer Fröhlichkeit und Menschlichkeit, die von ihnen ausging.
Mariam und Michael waren zwei junge, gebildete Menschen, die für alle ein offenes Ohr und offene Arme hatten.
Im Haus der Geschichte in Stuttgart ist seit ein paar Jahren in einer Vitrine die Lebensgeschichte von Mariam zu sehen, mit einem Film und einem Interview.
Mariam und Michael verloren am Morgen des 30. April 2008 in Mexiko bei einem tragischen Autounfall im selben Augenblick Seite an Seite ihr Leben. Die Körper der beiden jungen Menschen wurden gemeinsam in einer feierlichen, von vielen Freunden und Angehörigen besuchten Zeremonie auf dem Friedhof von Eigeltingen beigesetzt, dem Ort, wo sie ihr Nest eingerichtet hatten. Die Liebe und die Tränen der Anwesenden gaben ihnen das letzte Geleit.
Die Blumenblätter fielen zur Erde...
Was bleibt, ist die Erinnerung und der Samen, den jeder im Herzen der anderen gesät hat.
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