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"Unser islamisches Land befindet sich in einem kritischen Moment", "Unser Gottesstaat ist an einen schicksalhaften Moment gelangt", "Jetzt setzen die inneren und äußeren Feinde zum Sturm gegen unsere göttliche islamische Regierung an."
Sätze wie diese sind nun schon zwanzig Jahre lang fast täglich aus dem Mund der Führer der Islamischen Republik zu hören. Der Hinweis auf eine kritischen Zeit, auf die kritische Lage ist kein Privileg von Chomeini oder Chamenei, von Rafsandschani oder Chatami - auch zum Freitagsgebet tönt dergleichen von Hunderten von Kanzeln. Zeitungen, Radio und Fernsehen versuchen unermüdlich, die Lage im Iran als kritisch und schicksalsträchtig darzustellen.
Was war das Motiv für Ayatollah Chomeini, für seinen Nachfolger Chamenei, so zu sprechen, warum wiederholen die über den Iran herrschenden Mollas die selben Worte wie im Chor?
Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir erst ein paar Worte über das Schiitentum verlieren, einen wichtigen Zweig des Islam. Die schiitischen Geistlichen betrachten sich selbst als wahre Erben des Propheten des Islam und finden, es sei ihr Recht, über die islamische Welt zu herrschen. Sie halten ihre Auslegung von Gottes Wort, d.h. des Korans, und ihre Überlieferung von den Worten und Taten des Propheten für die richtige. Unter Berufung auf den Koran und den Propheten stützen sie sich zur Lenkung einer islamischen Gesellschaft auf zwei Theorien: die Theorie Bevor wir näher auf die beiden Theorien eingehen, wollen wir auf folgende zwei Fragen eine Antwort finden.
So mögen Sie sich sicher fragen, wieso das Verständnis der Funktionsweise der Islamischen Republik Iran für alle Moslems und Nicht-Moslems notwendig sein sollte? Nun, auf unserem Erdball leben rund 1,3 Milliarden Moslems. Die islamischen Staaten haben eine wichtige geographische Stellung, denn unter ihren Wüsten und Gebirgen, unter ihren Gewässern und besiedelten Gebieten lagern Öl- und Gasvorräte, die darauf warten, ausgebeutet zu werden und die Räder der Industrien der Welt anzutreiben. Ohne diese gewaltigen Energiereserven würden die Industriestaaten schnell kalte Füße bekommen und in eine tiefe Krise stürzen. Zudem sind die islamischen Staaten, die über Erdöldollars verfügen, auch als Konsumenten nicht zu verachten. Aus diesem Grund spielen sie als Herren über die wichtigsten Rohstoffe wie auch als kaufkräftige Verbraucher eine besondere Rolle.
Vor zwanzig Jahren wurde im Iran eine islamische Regierung errichtet die den Führungsanspruch über die gesamte islamische Welt erhebt. Ihr Ziel ist es, dass die Moslems auf aller Welt in ihren Staaten eine Regierung nach dem iranischen Modell einrichten. Zu diesem Zweck unterstützt sie die Fundamentalisten dieser Staaten finanziell, mit Waffen und kulturell, offen wie auf geheimen Kanälen. Die Architekten der islamischen Republik betrachten ihr Regierungsmodell als göttliches islamisches Modell. Die Fahne des Modells ist grün, und ihr Wunschtraum ist es, diese Fahre in allen islamischen Staaten - und dann auf der ganzen Welt flattern zu sehen. Die Führer der Schiiten haben diesen Wunsch stets verfolgt, Chomeini hat ihn öffentlich geäußert, auch Chamenei, Rafsandschani, Chatami und andere iranische Geistliche hegen diesen Wunsch, nur dass sie das gegenwärtig nicht so offen aussprechen. Aber sie nutzen jede Gelegenheit, sich als Muster eines göttlichen Modells zu präsentieren und so die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zu ziehen. Ihr jüngster Clou war der "Dialog der Kulturen", der von Präsident Chatami lanciert wurde und dem leider viele politische, gesellschaftliche und kulturelle Persönlichkeiten auf der ganzen Welt auf den Leim gegangen sind.
Die 1400-jährige Geschichte des Islam, die Gedankenwelt und Vorstellungen jedes Moslems vom Islam, die Ziele der Fundamentalisten der Islamischen Republik Iran, die die islamische Weltherrschaft erringen wollen, die Umwandlung von islamischen Nationen in ein "islamisches Glaubensvolk" und die Herrschaft über die materiellen und geistigen Schätze der islamischen Welt sind Grund genug für uns, uns mit der Islamischen Republik Iran und seinem Herrschaftsmodell näher zu befassen.
Die zweite Frage ist die, wieso die Führer der Islamischen Republik Iran es als ihr Vorrecht ansehen, über das iranische Volk zu herrschen. Hierzu greifen sie auf einige schiitischen Grundsätze zurück, die in ihren Augen beweisen, dass das Volk Gottes Wort direkt, also ohne Vermittler, gar nicht begreifen kann und sich deshalb vom Luxus und der Pracht der Industriestaaten blenden und auf Abwege führen lässt. Allein die religiösen Führer seien in der Lage, Gottes Wort richtig zu verstehen, und sie sind nach ihrer Überzeugung von Gott auserwählt, im Namen Gottes und des Islam das irregeleitete Volk auf den richtigen Weg zu führen und zu erretten. Die iranischen Mollas sind überzeugt, dass es im Leben nur zwei Wege gibt. Den Weg Gottes und den des Teufels. Damit das Volk den Weg Gottes beschreitet, müssen sie de religiösen Führern und den Gesetzen der islamischen Regierung folgen. Die islamische Regierung ist insofern eine göttliche Aufgabe, eine Aufgabe, die Gott anfänglich dem Propheten des Islam übertragen hat und dann den Imamen. In der heutigen Zeit sind die Führer der Islamischen Republik diejenigen, die von Gott mit dieser Aufgabe betraut wurden und daher das Recht haben, das Volk zu regieren.
Die Führer der Islamischen Republik Iran, sei es Chomeini, sei es sein Nachfolger Chamenei oder andere Mollas sind überzeugt, dass das Volk in einer Sache geeint ist, dass es etwas gemeinsam hat. Und diese Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle irregeleitet sind und materielle Interessen verfolgen. Um ein Volk zu regieren, das auf Abwege geraten ist, muss erst jegliche Einheit und Gemeinsamkeit zerstört werden. In den kleinsten Einheiten der Gesellschaft - der Familie, ebenso wie zwischen den Familien, zwischen den nomadisierenden Stämmen und zwischen den verschiedenen Volksgruppen muss Zwietracht gesät werden. Die Gesellschaft muss in eine geistig-seelische Krise gestürzt und in diesem Zustand gehalten werden, wozu auch das Schüren von Konflikten zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen Persern, Aserbaidschanern, Arabern und Belutschen gehört. So wird ständig ein Gefühl der Krise erzeugt und am Leben erhalten. Und wenn die Erzeugung interner Krisen nicht zum gewünschten Ergebnis führt, sucht man eben Krieg mit den Nachbarn, um die Energien des irregeleiteten Volkes abzuleiten, damit es nicht wagt, sich der göttlichen Regierung entgegenzustellen. Seit zwanzig Jahren schon bedient sich die Islamische Regierung auf unterschiedliche Art der Theorie der Krise und versucht, sie in die Praxis umzusetzen.
Ausgehend davon, dass das Volk materialistisch denkt, lustorientiert handelt und das ach so kurze Leben im Diesseits vorzieht, weil es nicht fähig ist, das ewige Leben zu begreifen, das im Jenseits weitergeht, gilt die Furcht vor Gott als wichtiges Mittel, das abtrünnige Volk vom Weg des Teufels abzubringen und auf den Weg zu Gott zu führen. Solange das Volk vor Gott keine Angst hat, setzt es sich leicht über die göttlichen Gebote hinweg und verliert sich im ausschweifenden materiellen Leben. Um dem Volk zu helfen, muss eine Atmosphäre der Angst geschaffen werden, die den Geist und die Seele des Volkes beherrscht. Diese ständige Angst lässt sich auf zwei Wegen erzeugen. Zum einen mit gesetzlichen Mitteln, zum andern mit illegalen Methoden.
Die Führer der Islamischen Republik Iran glauben, dass sie mit Hilfe der Ausführung der göttlichen islamischen Gesetze, etwa durch Steinigung, das Abhacken der Finger, das Amputieren von Händen und Füßen, das Ausstechen der Augen, durch die Todesstrafe und den Galgen, sowie durch das Auspeitschen eine ständige Angst erzeugen und aufrecht erhalten können. Aus diesem Grund werden in der Islamischen Republik Iran seit zwanzig Jahren auf den großen Plätzen in der Stadt wie im Dorf islamische Strafen zur Schau gestellt, werden vor aller Augen Menschen gesteinigt, ihre Finger, Hände oder Füße abgehackt, und Tausende von Menschen gezwungen, an diesem "Schauspiel" teilzunehmen, werden die Szenen gefilmt und ständig landesweit im Fernsehen ausgestrahlt. Auf der Straße werden Hinrichtungen vollstreckt, und die Leichen der Hingerichteten werden durch die Straßen geschleift. Menschen werden mit dem Kran hochgezogen und erhängt, die Leichname lässt der Staat mehrere Tage am Kran hängen. Menschen werden vor den Augen von Kindern und Erwachsenen öffentlich ausgepeitscht, sie werden aus den unterschiedlichsten Gründen verhaftet und schwer gefoltert, damit die Bevölkerung direkt oder indirekt von der Existenz der Folter erfährt. Nach Überzeugung der politisch-religiösen Führer der Islamischen Republik Iran halten diese islamischen Strafen nach den Vorschriften der Scharia die Angst im Herzen der Bevölkerung lebendig, so dass sie sich zwangsweise der islamischen Regierung unterwerfen.
Nach Ansicht der islamischen Fundamentalisten reichen die legalen Mittel nicht aus, um genügend Angst zu verbreiten, denn zur Befriedigung ihrer materiellen und sexuellen Bedürfnisse sucht die Bevölkerung angesichts der strengen islamischen Gesetze nach verborgenen Wegen, die sich den Augen der Mollas entziehen, um ihren Lastern zu frönen. Zudem brauchen die legalen Mittel der Bestrafung und Einschüchterung mitunter viel Zeit und kosten viel, so dass zu ihrer Vervollständigung zu anderen Methoden gegriffen wird. Zu diesem Zweck werden unter den Ärmsten, im Lumpenproletariat, unter den Obdachlosen, unter den Hesbollahis und den religiösen Fanatikern bestimmte Typen ausgesucht, die religiösen Unterricht, Unterweisung im Waffengebrauch und Geld erhalten, und aus denen Stoßkommandos oder Schlägertrupps gebildet werden. Diese Stoßkommandos müssen in jeder Gasse, in jeder Straße, in jedem Viertel, in jeder Stadt und in jedem Dorf bei Bedarf rasch zur Stelle sein. Die Angehörigen dieser Kommandos müssen zivile Kleidung tragen. Zu diesen Stoßtrupps gesellen sich Angehörige des Geheimdienstes, der Revolutionswächter (Pasdaran), der Armee, der Justiz, der Verwaltung oder auch Abgeordnete um sie zielgerecht zu dirigieren, wenn diese auf Demonstranten oder sonstwie Protestierende einschlagen. Die Stoßtrupps scheren sich um kein Gesetz, je nach Lage treten sie auf Befehl des Führers der Islamischen Republik oder der politisch-religiösen Führer in Aktion, und gehen mit Knüppeln, Messern und Pistolen auf die Menge los. Sie setzen die Wohnungen von Regierungsgegnern in Brand, wobei Menschen in den Flammen umkommen, sie lassen Buchhandlungen in Flammen aufgehen, sie attackieren ordnungsgemäß genehmigte Demonstrationen, hinterlassen Tote und Verletzte und nehmen Verhaftungen vor. Einige Menschen werden auf dem Weg von der Wohnung zum Arbeitsplatz entführt, ein paar Tage später findet man ihre Leiche am Stadtrand oder am Rand einer Autobahn. Schriftsteller, Künstler oder Oppositionspolitiker werden im Schutz der Dunkelheit in ihrer Wohnung überfallen und fallen einem Terroranschlag zum Opfer. Die Täter dieser terroristischen Aktionen werden nie aufgedeckt, nie haben sie eine Strafe zu befürchten. Sofern sich Augenzeugen finden und sich trauen, über das Gesehene zu berichten, fallen sie bald ihrem eigenen Mut zum Opfer.
Chomeini als Gründer der Islamischen Regierung ließ zur Einführung seines Modells, zur Beseitigung der politischen Gegner und zur Einschüchterung der Gegner im Ausland die amerikanische Botschaft in Teheran besetzen. Er zog den Krieg zwischen dem Iran und dem Irak acht Jahre in die Länge, der das gewünscht Klima von Angst und Krise erzeugte, allerdings mit einer Niederlage für ihn endete. So musste er schließlich den heiligen Krieg abblasen und sich auf einen Waffenstillstand einlassen.
Aber der listige Fuchs fand rasch Abhilfe. Um im Inland wie im Ausland Angst und Unsicherheit zu verbreiten, erließ er eine Fatwa, einen religiösen Aufruf zur Ermordung des Schriftsteller Salman Rushdie. Mit dieser Fatwa schaffte es Chomeini, seine Position im Inland zu festigen und zugleich seinen Anspruch auf die Führung der islamischen Welt geltend zu machen. Mit der Todesfatwa gegen Salman Rushdie eröffnete Chomeini eine neue Front gegen die in- und ausländischen Gegner der Islamischen Republik Iran. Die Verfolgung und Ermordung von Iranern auch im Ausland, Bombenexplosionen in wirtschaftlichen und politischen Zentren der ganzen Welt erzeugten ein Klima der Angst und dienten der Fortsetzung der Krise.
Auch wenn die Führer der Islamischen Republik in den letzten Jahren obige Politik nicht mehr so strikt verfolgen und lieber vom "Dialog der Kulturen" sprechen, heißt das nicht, dass sie jetzt zur Vernunft gekommen wären und sich geändert hätten, um das System zu reformieren, sondern einzig und allein, dass sie zu schwach sind. Wegen dieser Schwäche sind sie derzeit den Angriffen der rebellierenden, vor Unzufriedenheit kochenden Bevölkerung ausgesetzt.
Bleibt die Frage, ob das Modell der Islamischen Republik erfolgreich war. Die Architekten der Islamischen Republik hatten vor zwanzig Jahren ein großes Reservoir an geistigen Kräften und finanziellen Mitteln zur Verfügung, um ihren Staat zu errichten. Die iranische Industrie besaß das Potential einer raschen Entfaltung. Auch die Landwirtschaft wäre in der Lage gewesen, eine zentrale Rolle in der Entwicklung des Irans zu übernehmen. Der Dienstleistungssektor war reformbedürftig, mit einem vernünftigen Management hätte er aber die Bedürfnisse der iranischen Gesellschaft decken können. Die Erdöl- und Gaseinnahmen hätten es erlaubt, alle drei Wirtschaftssektoren zu fördern.
Neben diesen wirtschaftlichen Voraussetzungen hatte die islamische Regierung auch breiten Rückhalt in der Bevölkerung, die glaubte, dass die Regierung ihre Wünsche verwirklichen würde und sie das Paradies erreichen würde, für das sie die Revolution gemacht hatte. Die Menschen hatten gehofft, in einem freien, entwickelten Land leben zu können.
Nun, zwanzig Jahre später, setzen 95 Prozent keinerlei Hoffnung mehr auf die islamische Regierung. Das Land wird von einer hohen Inflation Arbeitslosigkeit und Armut heimgesucht, überall herrscht Korruption, Drogensucht und völliges Chaos. Die Theorie der Angst und die Theorie der Krise haben der ethischen Substanz und dem Sozialverhalten der iranischen Bevölkerung einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zugefügt, was man deutlich am schwindelerregenden Anstieg der Selbstmorde, der Scheidungen oder der Geisteskrankheiten, an der Zunahme von Diebstählen und Rauschgifthandel ablesen kann.
Zwar bemühen sich die Herrschenden nach allen Kräften, unter der Bevölkerung ein Gefühl der Angst und der Krise zu verbreiten, aber diese, besonders die 25 Millionen Menschen unter dreißig, die meist auch die Schule besucht haben, haben ihre Angst vor der Folter, dem Gefängnis und der Hinrichtung besiegt, sie kritisieren die islamische Regierung und protestieren gegen sie, und man gewinnt den Eindruck, dass die ganze Kritik, die Protestaktionen und Formen des Widerstands allmählich in einen Aufstand münden. Der Tag, an dem eine landesweite, koordinierte Volkserhebung die Mollas von der Macht fegt, scheint nicht mehr so fern.
Ali SchirasiÜbersetzung aus dem Persischen von Georg Warning, PF 5329, D-78432 Konstanz e-mail 320035641878-0001@t-online.de - Konstanz, den , 6.11.00
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