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Mit fünf Jahren wünschte er sich Schuhe mit heilen Sohlen, mit 14 die Flucht aus der Enge des Dorfes, mit 16 den Besuch der Universität, mit 20 die Überwindung von Armut und Diktatur in seinem Land, mit 35 die Befreiung aus der Haft des Schah-Regimes, mit 44 die Flucht aus Khomeinis Kerkern und mit 55 Jahren eine Welt, in der das Wort Exekution ein Fremdwort ist. Die Stationen des Gedichts "Mein Wunsch" sind Rückschau auf eine Biografie, verdichtete Schrecken und Hoffnungen, konzentriert auf 31 Zeilen: Stationen aus dem Leben des iranischen Schriftstellers Ali Schirasi. Wenn Ali Schirasi von Folter, Unterdrückung und Ungleichheit berichtet, dann weiß er, wovon er spricht. 1940 in einem kleinen Dorf bei Teheran geboren, bekam er bereits im Alter von fünf Jahren in der Koranschule die ersten Peitschenhiebe zu spüren. Mit sechzehn Jahren wurde er Grundschullehrer in Teheran. Parallel zum Unterricht besuchte er abends die Pädagogische Hochschule, um sich als Oberstufenlehrer für Mathematik zu qualifizieren und sich auf die Aufnahmeprüfung zur Universität vorzubereiten. Beim ersten landesweiten Lehrerstreik 1962 sammelte Ali Schirasi erste Erfahrungen im Kampf um die Freiheit und gründete gemeinsam mit anderen Lehrern eine geheime Zelle, um eine Lehrergewerkschaft aufzubauen. In Teheran lernte er auch die extreme Ungleichheit zwischen Reichen und Armen kennen. Während die einen ohne Schuhe in die staatliche Schule kamen, verfügten die anderen über ein eigenes Auto, mit dem sie täglich in die Privatschule fuhren. "Für mich war das unglaublich", bemerkt Ali Schirasi heute. "Ein erster Schritt, um gegen das Schah-Regime zu kämpfen."
Wegen seiner politischen Aktivitäten wurde er 1975 unter dem Schah-Regime zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, jedoch auf Intervention des Internationalen Roten Kreuzes 1978 freigelassen. Nach Khomeinis Machtergreifung wurde er 1983 erneut aus politischen Gründen inhaftiert. Nachdem er sich aus dem berüchtigten Ewin-Gefängnis in Teheran retten konnte, gelang ihm 1987 die Flucht aus dem Iran. Heute lebt er als freier Schriftsteller am Bodensee. Ali Schirasi veröffentlichte Gedichte und mehrere Erzählbände. In Vorträgen und Aufsätzen versucht er, über die politische Situation des Irans zu informieren. Auf der anderen Seite ist es für ihn auch von Bedeutung, die westliche Welt mit der Perspektive der Dritten Welt zu konfrontieren. Besonders nach dem 11.September des vergangenen Jahres hat Schirasi in einem vielbeachteten Aufsatz dazu beigetragen, die sehr schnell entwickelten Schwarz-Weiß- und Gut- und Böse-Schemata durch differenzierte Überlegungen aufzubrechen.
Auch in seinen Büchern spielt die politische Botschaft in der Tradition einer "litterature engageé" natürlich eine wichtige Rolle. Darüber hinaus geben sie auch Einblicke in eine Welt, die uns eher verschlossen ist, von der wir allenfalls einen Zipfel in einem Kurzbeitrag der abendlichen Nachrichten erhaschen. Vor allem in den Erzählungen erfährt man vom Handeln und Denken der iranischen Dorfbevölkerung, von den Traditionen, die bedeutsam sind für die Menschen der persischen Kultur. Beides, Erzählungen wie Gedichte, sind jedoch nicht nur Chronik, Dokumentation oder politische Botschaft, sondern literarische Miniaturen, die man gerne liest, weil sie vor allen Dingen gut geschrieben sind.
Am 28. April 2002 erhielt Ali Schirasi den Ingeborg Drewitz Literaturpreis für Gefangene für seinen Text "Hoffnungen ohne Ende - Erinnerungen aus dem Gefängnis, Iran". Von insgesamt 241 Teilnehmern der Ausschreibung wurden 12 Autoren für ihre Texte ausgezeichnet.
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sw, 20.4.02