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Iran: Das Gefängnismassaker vom September 1988

An einem heißen Sommertag des Jahres 1988 meldete Radio Teheran in einer kurzen Notiz um 14 Uhr: „Die iranische Regierung hat die Resolution Nr. 598 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen angenommen.“ Diese Meldung bedeutete damals – Waffenstillstand mit dem Irak nach acht Jahren Krieg. Das hieß: Der Krieg war zu Ende. Das hieß: Die iranische Regierung und Chomeini hatten es nicht geschafft, den Irak zu erobern und dort ein islamisches Modell zu errichten. Zwar rührten Zeitungen, Radio und Fernsehen noch immer die Kriegstrommel, und der Krieg an der Front tobte noch immer, aber die zitierte Meldung zwang Chomeini zu einer kurzen Ansprache, in der er erklärte, dass er die Resolution Nr. 598 des Sicherheitsrats akzeptiere, und wörtlich fortfuhr: „Die Annahme des Waffenstillstands, die Annahme der Resolution, sind wie ein Giftbecher. Aber so ist der Wille Gottes, des Allmächtigen, und ich muss ihn austrinken.“

Einige Tage nach dieser Nachricht wurden sämtliche Besuchsmöglichkeiten mit den politischen Gefangenen im Iran gestrichen. Es gingen verschiedene Gerüchte. Die meisten besagten, dass Chomeini und die Islamische Republik ihr Scheitern an der Kriegsfront an der inneren Front wettmachen wollten, indem sie die Reste der echten Opposition vernichteten. Aus diesem Grund seien auch die Gefängnisbesuche gestrichen worden.

Damals, im Sommer 1988, war die Opposition, das heißt die demokratischen, linken oder religiösen Parteien, Organisationen und Gruppen, unter der Verfolgung durch die Islamische Republik in drei Teile aufgesplittert: Ein Teil war hingerichtet worden, ein Teil war geflüchtet und lebte im Exil, und ein dritter Teil verbüßte Gefängnisstrafen. Im ganzen Land waren es mehr als 100.000 Menschen, die hinter Gittern gelandet waren. Ein großer Teil dieser politischen Gefangenen stand weiterhin trotz aller Unterdrückung fest zu seinen Überzeugungen und seiner Gegnerschaft zur Islamischen Republik Chomeinis. Trotz der ständigen Folterungen und der Qualen und Strapazen im Gefängnis waren sie nicht bereit, sich Chomeinis System anzuschließen und unterzuordnen. Als politischer und religiöser Führer erließ Chomeini eine Fatwa, ein religiöses Dekret, diese Menschen in einem großen Massaker hinzurichten.

Der damalige Hodschatoleslam Akbar Rafsandschani, damals Parlamentssprecher, der damalige Hodschatoleslam Ali Chamene’i, damals Präsident der Republik, und Ayatollah Mussawi Ardabili, damals Vorsitzender des Obersten Justizrats (Judikative) und Ahmad Chomeini (Chomeinis Sohn) gründeten damals die sogenannte Todeskommission. Sie nutzten alle Vollmachten, um Chomeinis Fatwa mit Hilfe dieser Todeskommission in die Praxis umzusetzen. Im Folgenden der Text der Fatwa:

Übersetzung der Fatwa von Ayatollah Chomeini, die politischen Gefangenen hinrichten zu lassen. Dies ist die Basis für das Gefängnismassaker des Jahres 1988.

Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen...

Diejenigen, die in den Gefängnissen des gesamten Landes auf ihrer zwieträchtigen Meinung beharrt haben und weiterhin beharren, sind Feinde des Islam und zur Hinrichtung verurteilt.

Die Entscheidung über den Einzelfall

– in Teheran mit mehrheitlicher Entscheidung seitens des Herren Hodschatoleslam Nayeri – er möge lange erhalten bleiben - (Scharia-Richter), des Herrn Eschraqi (Staatsanwalt von Teheran) und eines Vertreters des Geheimdienstministeriums (Purmohammadi, ein Vertreter des Ministeriums im Ewin-Gefängnis, zur Vollstreckung des Urteils), wobei sicherheitshalber Einstimmigkeit zu bevorzugen ist,
– in den Gefängnissen der Provinzhauptstädte des Landes mit mehrheitlicher Entscheidung seitens des Scharia-Richters, des Staatsanwalts der Revolution oder des stellvertretenden Staatsanwalts und eines Geheimdienstvertreters ist unbedingt auszuführen.

Mitleid mit den Feinden des Islam ist Naivität. Die Entschlossenheit des Islam gegenüber den Feinden Gottes gehört zu den unverrückbaren Prinzipien der islamischen Ordnung. Ich hoffe, dass dies – begleitet vom revolutionären Zorn und Hass auf die Feinde des Islam – den Gefallen Gottes, des Erhabenen, findet.

Die Herren, denen die Entscheidung im Einzelfall obliegt, mögen sich nicht von Verlockungen oder Zweifeln leiten lassen, sie sollen nicht zögern, sondern bemüht sein, mit aller Schärfe gegen die Ungläubigen vorzugehen. Zögern in der Frage des revolutionären Islam heißt, das reine, unbefleckte Blut der Märtyrer zu ignorieren.

Ruhollah Al-Mussawi Al-Chomeini

Die Mitglieder der Todeskommission waren:

  1. Ayatollah Mortasa Eshraqi, der Leiter der Staatsanwaltschaft der Hauptstadt und Oberhaupt der Kommission
  2. Hodschatoleslam Dschafar Nayeri, Vorsitzender der Islamischen Revolutionsgerichte der Hauptstadt, Scharia-Richter mit Sitz im Ewin-Gefängnis
  3. Mohammad Ali Baschari, Scharia-Richter im Ewin-Gefängnis und Vorsitzender der 2. Kammer des Gerichts
  4. Ebrahim Ra’issi, stellvertretender Staatsanwalt
  5. Ahmad Purmohammadi, Vertreter des Geheimdienstministeriums in den Gefängnissen Ewin und Qeselhessar
  6. Hadschi Nasserian, stellvertretender Staatsanwalt in den Gefängnissen Gohardascht und Qeselhessar
  7. Hadschi Dawud Laschkari, verantwortlich für die Sicherheit und die Repression im Gefängnis Gohardascht
  8. Ali Fallahiyan, Staatssekretär im Geheimdienstministerium
  9. Modschtaba Halwa’i, einer der Hauptverantwortlichen für die Hinrichtungen
  10. Esmail Schuschtari, Direktor der gesamten Gefängnisverwaltung
  11. Hossein Mortasawi, Direktor des Ewin-Gefängnis
  12. Mohammad Reischahri, Geheimdienstminister

Diese Kommission hat innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem Monat Tausende von politischen Gefangenen in Teheran und den Provinzgefängnissen mit verschiedenen Hinrichtungsmethoden – u.a. mit dem Strick – ermordet. Es geht hier nicht um Dutzende, Hunderte oder Tausend Gefangene. Laut Angaben der Opposition liegt die Zahl der Opfer zwischen viereinhalb Tausend und Dreißigtausend.

Es ist bedauerlich, dass die damaligen Regierungen der westlichen Welt aus wirtschaftlichen oder politischen Motiven nicht gegen dieses Massaker protestiert haben und dieses unerhörte Vorgehen mit Stillschweigen übergingen. Daher wissen viele Menschen gar nicht, dass dieses Blutbad überhaupt stattgefunden hat, und auch heute findet man in den Massenmedien nur spärliche Hinweise auf dieses Ereignis.

Ist das Weltgewissen bereit, dieses Massaker dem Vergessen zu entreißen? Ist das Weltgewissen bereit, insbesondere Rechtsanwälte, Juristen und Anhänger der Menschenrechte auf der ganzen Welt, die iranische Regierung und speziell die Verantwortlichen dieses Massakers vor ein internationales Tribunal zu stellen?

ViSdP: Ali Schirasi, 10/09/2004

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sw, 23.09.04